Die Frau mit dem Malteser

Nach meinem Umzug überlegte ich, wie ich in meiner neuen Heimat Menschen kennenlernen könnte. Wenn man jung ist, hat man viele Berührungspunkte in Ausbildung, Studium, Sport und anderen Freizeitaktivitäten. Man ist offen und neugierig, Gruppen formieren sich ständig neu und es ist leicht, Anschluss zu finden. Mit Mitte fünfzig sieht das anders aus, noch dazu, wenn man wie ich im Homeoffice arbeitet. In meinem Alter sind die Leute mit sich beschäftigt, der Alltag verläuft in eingefahrenen Routinen, der Job wird zunehmend belastender, hinzu kommen pflegebedürftige Eltern und eigene körperliche Beeinträchtigungen – schnell ist man am Limit. Für Neues ist da kaum Platz.
In der Großstadt treffen Nachbarn sich im Treppenhaus, im Garten der Wohnanlage, auf dem Fußweg zum Supermarkt. Die Leute sind viel zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Man sieht sich – und oft genug bleibt man auch stehen und wechselt ein paar Worte. In Vororten und ländlichem Raum ist das anders. Da fahren alle Auto und ziehen sich in ihre Einfamilienhäuser und Gärten zurück. Man sieht die Nachbarn höchstens mal über den Zaun winken – sofern er nicht blickdicht ist. Einzige Ausnahme: Sie haben einen Hund, mit dem sie regelmäßig spazieren gehen.
Ich gehe auch gern und viel spazieren. Menschen lernte ich dabei früher allerdings nicht kennen. Die Leute grüßten freundlich – und gingen weiter. Das hat sich mittlerweile geändert. Viele bleiben stehen, manchmal ergeben sich lange Gespräche. Das liegt nicht daran, dass ich plötzlich so eine tolle Ausstrahlung habe, die alle zum Stehenbleiben zwingt, schön wär’s. Der Grund ist vielmehr knapp 27 Zentimeter hoch, hat vier Beine und die seelenvollsten Augen in der ganzen Straße.
Wie Joschi zu uns kam, ist eine Geschichte für sich. Fakt ist, dass er mein Leben stärker veränderte als der Umzug von Hamburg ins Saarland. Ich fühle mich oft wie eine junge Mutter, genauso gestresst, überfordert, hilflos, übertrieben besorgt – und unendlich stolz und voller Liebe. Ganz ehrlich? Damit hatte ich nicht gerechnet. Dabei ist Joschi nicht mein erster Hund. Allerdings der erste, für den ich allein die Verantwortung habe. Das ist dann doch etwas anderes als damals mit dreizehn, als ein kleiner Hund in unsere Familie kam und wir Kinder uns darum stritten, wer zuerst mit ihm gassigehen durfte. Die Euphorie hielt freilich nicht lange an, später stritten wir darum, wer mit ihm rausgehen musste, – »ich war gestern schon zweimal, jetzt bist du dran!«, das ist der Lauf der Dinge.
Joschi, der kleine Biewer Yorkshire Terrier mit den wunderschönen Fellfarben brachte mir also Nachbarschaftsgespräche ein. Vor allem mit den anderen Hundebesitzern. Ich erhalte Tipps, welche Hundeschule gut ist, wie die Verdauung besser läuft, wie Joschi mutiger und selbstbewusster wird. Zuhause erzähle ich von »der Frau mit dem Malteser«, Namen kenne ich höchstens von den Hunden. In der Hundeschule ist das ähnlich. Da ist der Mann mit dem Zwergpudel, die Frau mit dem Tierschutzhund, der ständig kläfft. Alle sind mit sich und ihrem Hund beschäftigt, selten mit den Besitzern der anderen Hunde. Aber ein Anfang ist gemacht. Gelegentlich ergeben sich persönliche Gespräche, ich höre mir neugierig die Geschichten an, wie Hunde zu ihren Menschen kamen, wie sie Freude und Schwierigkeiten in die Familie brachten, wie sie uns alle immer neu herausfordern. Und ich erzähle meine eigene Geschichte. Von meinem Umzug und von Joschis Umzug, davon, wie schwer uns beiden der Start in der neuen Heimat fiel. Und wie wir uns gegenseitig motivieren, die Welt zu entdecken, in der wir jetzt leben.