Briefe aus bewegten Zeiten
Ich war mein Leben lang eine leidenschaftliche Briefeschreiberin. Das begann, als ich acht oder neun Jahre alt war und zu Weihnachten einen Füller geschenkt bekam. Auf dem Rand einer alten Zeitung probierte ich ihn mit meiner noch recht ungelenken Handschrift aus.
»Liebe Tante Bärbel …«
Meine Mutter ermutigte mich, den Brief auf hübschem Papier noch einmal zu schreiben und abzuschicken. Tante Bärbel war ihre ehemalige Kollegin und meine Patentante. Ich nannte sie Tante, obwohl wir nicht verwandt waren. Damals machte man das so, jedenfalls in meiner Familie. Es ging sogar noch absurder, mein Bruder sprach seine Patentante, die ehemalige Wirtin meiner Mutter, mit Tante und ihrem Nachnamen an.
Tante Bärbel lebte in Süddeutschland, wir in Westfalen. Wir sahen uns nicht oft, aber sie zählt zu den Konstanten meiner Kindheit und Jugend. An jedem Weihnachts- und Geburtstagsfest bekam ich ein Päckchen von ihr. Zu meiner Taufe hatte sie ein silbernes Besteck-Set gekauft, das ich in den folgenden Jahren Stück für Stück erhielt. Eine Gabel zum Geburtstag, einen Löffel zu Weihnachten, manchmal auch zwei, drei Teile auf einmal. Das waren Werte für die Zukunft, der Grundstein für meine Aussteuer gewissermaßen. Jedenfalls redeten mir das alle Erwachsenen ein. Tatsächlich benutzte ich das Besteck später nur selten. Ich fand es unpraktisch, Silber im Alltag zu verwenden, und hob es für besondere Anlässe auf. Die meiste Zeit verbrachte es gut verpackt im Schrank. Da liegt es heute noch.
Als ich älter wurde, besuchte ich Tante Bärbel von Zeit zu Zeit. Sie hatte nie geheiratet und ich bewunderte ihre resolute Art, mit der sie sich als alleinstehende Frau in einer Welt behauptete, in der die Ehe als Standard galt. Einmal fragte ich sie, ob ihr kein Mann fehle. Ihre Antwort beeindruckte mich, war sie doch typisch für Tante Bärbel und gleichzeitig ein Trost für mich, die ich auch gerade mal wieder allein war.
»Ach, na ja, mir ist auch viel erspart geblieben.«
Tante Bärbel wurde 1921 auf einem Gutshof in Pommern geboren. In eindrucksvollen Briefen, in denen ihr Pragmatismus und handfester Humor erkennbar sind, erzählt sie von ihrer Ausbildung zur Medizinisch-Technischen-Assistentin, den Kriegszeiten und ihrer Arbeit in einem Lazarett. Sie schlägt aber auch ernstere Töne an, zum Beispiel, als sie von der dramatischen Flucht ihrer Familie vor den Russen berichtet.
»Doch der Weg führte durch unendliche Schrecken: Vater sollte entführt werden, für die Nächte versah ich mich mit einem dicken Kopfverband, wodurch ich tatsächlich vor Nachstellungen verschont blieb. Als sich Mutter einmal weigerte mitzugehen, wurde ihr die Oberlippe mit einem Gewehrkolben aufgeschlagen …«
Erst 1953 fanden sie und ihre Eltern endgültig ein neues Zuhause in Freiburg im Breisgau, wo sie bis an ihr Lebensende blieben. Zur Heimat wurde es ihnen nie. Besagte Briefe erschienen in dem Buch Briefe aus bewegten Zeiten. Maria Näder und Dorothea Kreidel, zwei ehemalige Mitschülerinnen meiner Patentante, brachten es 1997 heraus. Es enthält den umfangreichen Briefwechsel von zwanzig Frauen, die als Mädchen auf das Internat der Hoffbauer-Stiftung in Potsdam-Hermannswerder gingen. Ihre Väter gehörten zur gehobenen Gesellschaft, sie waren Gutsbesitzer und Industrielle, viele stammten aus Ostdeutschland. Einige der Mädchen starteten im Sommer 1939 einen Rundbrief, um einander von ihren Erlebnissen während eines Arbeitspraktikums zu berichten. Sie setzten diesen Briefwechsel auch während des Zweiten Weltkriegs und viele Jahre danach fort.
Entstanden ist ein außergewöhnliches Zeitzeugnis, die Frauen erzählen ungeschminkt, manchmal fast naiv von Besuchen im »Führer-Hotel«, ihrer Teilnahme an Reichsparteitagen, von ihren Einsätzen beim Reichsarbeitsdienst und ihren Berufsausbildungen. Sie erzählen vom Krieg, bei dessen Ausbruch sie achtzehn Jahre alt waren, von Flucht und Vertreibung, der Angst um die Männer, die an der Front waren und oft genug nicht zurückkehrten, und davon, wie sie alle »bei Null und Konto Null« von vorne begannen.
Nur selten schimmern dabei Angst und Verzweiflung durch. Meistens werden selbst die schlimmsten Ereignisse zusammengefasst wie Abenteuerberichte, nach denen man zur Tagesordnung überging. Kaum irgendwo nach wochenlanger traumatischer Flucht angekommen, krempelte man die Ärmel hoch und arbeitete einfach weiter – für uns heute undenkbar. Was haben die Menschen mit ihren Gefühlen gemacht, frage ich mich unweigerlich. Wie haben sie ihre Ängste bewältigt? Und woher nahmen sie die Kraft, neu zu beginnen?
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