Wünschelruten und Familiengeheimnisse

„Er lief regelmäßig mit einer Wünschelrute umher und spürte Wasseradern auf. Mein Vater, der Schulmediziner, verdrehte die Augen, während meine Mutter mit Otto durch unseren Garten lief und fasziniert beobachtete, wie sich die beiden Drähte in seinen Händen plötzlich wie von selbst nach innen bogen. »Da kreuzen sich zwei Wasseradern«, verkündete er. »Wenn auf so einer Kreuzung ein Haus steht, kommt es häufig zu Krebserkrankungen, das ist wissenschaftlich erwiesen.« Mein Vater rollte noch mehr mit den Augen, aber meine Mutter überlegte ernsthaft, ob sie ihr Bett umstellen sollte. Unter Ottos Bett in seinem Zimmer in Leipzig lag ein großer Magnet, der ihn vor Erdstrahlen und Wasseradern schützen sollte. Er hatte die Zeitschrift für Radiästhesie abonniert, die sich mit Wünschelrutenforschung und Pendelkunde befasste. Soweit ich weiß, erschien die Zeitschrift nur in der BRD. Wie sie den Weg nach Leipzig fand, bleibt eins der vielen Rätsel, die mein Großvater hinterlassen hat.“
Mein Großvater, geboren 1903 in Leipzig, war Ingenieur und Lebenskünstler. Er liebte Musik, Kino, Theater und Unterhaltung aller Art, war selbst ein hervorragender Klavierspieler. Ich habe von ihm wohl die kreative Ader geerbt – und seinen Bücherschrank, der über zwanzig Jahre in meiner Wohnung stand. Als ich aus Hamburg fortzog, nahm ich den Schrank nicht mit, trotz der vielen Erinnerungen, mit denen er behaftet war. Alles hat seine Zeit.
Beim Schreiben eines Textes über den Schrank fielen mir plötzlich lauter alte Geschichten ein. Ich stöberte in Fotoalben und entdeckte nicht nur Bilder, die ich noch nie gesehen hatte, sondern auch Briefe und Kassenbons, Urkunden und Dokumente, Zeitzeugen eines bewegten Lebens. Ich tauchte ein in ein Stück Familiengeschichte, so gut es mir möglich war. Viele Fragen kann mir niemand mehr beantworten. Das ist spannend und ein bisschen traurig zugleich.
In meiner Familie hat niemand Ahnenforschung betrieben, jedenfalls nicht so gründlich, dass man damit etwas anfangen könnte. Manchmal denke ich, dass es spannend wäre, in Archiven nachzufragen und wenigstens ein paar Puzzlesteine zusammenzufügen. Für den Moment habe ich mich damit begnügt, aus meiner Erinnerung heraus die Geschichte meines Großvaters zu erzählen. Sie handelt nicht nur von Wünschelruten, sondern auch von einem Koffer voller Noten und einem Familiengeheimnis – und natürlich von seinem Bücherschrank.
Den vollständigen Text kannst du unter dem Titel Der Bücherschrank auf meiner Seite 50 schöne Dinge lesen. Klick dazu einfach auf den Button.